Die Symbole der Romanik und das Böse
Andreas Warausch, Nürtinger Zeitung 13.12.2009
Eine Botschaft aus der Vergangenheit als Lebenshilfe
Rund 20 Jahre arbeitete der Nürtinger Professor Jürgen Thies an seinem zweibändigen Monumentalwerk "Die Symbole der Romanik und das Böse“. Darin eröffnet die Analyse mittelalterlicher Kunstwerke Einblicke in eine spannende Gedankenwelt – und eine versöhnliche Erklärung für den Tod von Jesus Christus am Kreuz. Von Andreas Warausch.
Schwer und gewichtig liegen die beiden Bände vor dem 72-Jährigen auf dem Schreibtisch. Über 700 Seiten insgesamt. Ein weiter Weg war es bis hierhin. Jürgen Thies ist ihn gegangen. Mit Neugierde. Mit Hingabe. Mit einer großen Frage. 20 Jahre dauerte es. Mit vielen Unterbrechungen. Die letzten zwei Jahre hat er die Arbeit forciert. Viel unterwegs war er in all diesen Jahren. Im italienischen Otranto, im französischen Burgund und in der Provence. Auch in Deutschland. Und nicht zuletzt im schweizerischen Zillis.
Dort, im Kanton Graubünden, steht die Kirche St. Martin. Berühmt ist sie für ihre romanische Holzdecke (Bild), entstanden im frühen zwölften Jahrhundert. Sie besteht aus 153 einzelnen Tafeln. Verschiedenste Szenen sind darauf abgebildet. Aus dem Leben Jesu. Aus der Jonasgeschichte. Aus dem Leben des heiligen Martin. Es finden sich Fabelwesen. Und Engel. "Zillis war der Auslöser“, sagt Jürgen Thies. Für diese große Arbeit. "Manchmal können Kunstwerke die Seele tief berühren“, schildert Thies, der auch die Fachhochschule für Kunsttherapie in Nürtingen mitbegründete. Für den erfahrenen Kunsttherapeuten ist das ein Phänomen, das seelischen Gleichklang schafft. Wünsche, Sehnsüchte, Hoffnungen – sie alle fallen in solch einem Moment zusammen. Dafür kann auch Musik sorgen. Oder erfüllte Liebe. Die Natur. Aber eben auch ein Kunstwerk.
Thies spielte dieses Erlebnis in der abgelegenen Kirche auch noch den Schlüssel zur Antwort auf eine Frage zu, die ihn lange Jahre bewegte. Eine zutiefst religiöse Frage. Eine verstörende Frage. Eine Frage, die die Grundfesten des christlichen Glaubens berührt. Die Frage, wie Gott den Tod des eigenen Sohnes gewollt haben kann.
Als Dozent für Seelsorge und Therapie sah sich Thies immer wieder mit dieser Frage konfrontiert. "Die Studenten sollen mit Hilfsbedürftigen umgehen“, sagt Thies. Und doch bekämen 90 Prozent der Studierenden Probleme mit der herkömmlichen Religiosität. "Jesus ist da das Kernthema“, stellt Thies fest. Was ist das für ein brutaler Gott, der das Opfer seines Sohnes fordert? Ein lieber Gott? Kann man dem vertrauen?
In den herkömmlichen Antworten steckt viel "Opfer-Rhetorik“, sagt Thies. Das Bild vom "Agnus dei“, dem Lamm Gottes. Das, so Thies, begegnet den Gläubigen vor allem in evangelischen Kirchenliedern immer wieder. Viele empfänden Angst beim Gedanken, Jesus habe sich für die Menschen opfern müssen. Für die Vergebung der Sünden. Das ist die christliche Rechtfertigungslehre. Und dann kommt die Frage nach der Logik auf: Wie können Sünden jetzt und immer vergeben sein? Buße und Beichte kommen ins Spiel. Luther hatte eine andere Betrachtungsweise gefunden: Wer glaubt, dem ist vergeben. Die Rechtfertigung allein durch den Glauben, das ist für Thies eine "zu weite Auslegung“.
Auch in den Urzeiten des Christentums wurde der Tod Christi am Kreuz erklärt. Paulus sah den Tod seines Herrn als Sühneopfer, so Thies. Das war hergeleitet aus dem Alten Testament, wo Hohe Priester Tiere opfern. Jürgen Thies: "Die Idee vom Lamm Gottes war stark vom Judentum beein.usst.“ Später entstanden die Evangelien, Konzile legten den Kanon fest, bestimmten, welche Schriften Eingang in die Bibel finden.
Mit all diesen Fragen, mit all diesen Zweifeln im Kopf blickte Jürgen Thies eines Tages auf die Holzdecke in Zillis. Die seltsamen Fabelwesen am Rand tauchen als Sinnbild des Bösen auf. Schiffe aus der Geschichte von Jonas. In den Ecken finden sich Engel als Personifikation der vier Winde und Verkünder des Jüngsten Gerichts. Im Innern steht Christus im Mittelpunkt. Und seine Vorfahren: die Könige David, Salomon und Rehabeam. Die Verkündigung ist abgebildet. Und die Geschichte der Heiligen Drei Könige. Die Flucht der Heiligen Familie nach Ägypten genauso wie der herodische Kindermord. Die Taufe ist zu sehen und anschließend die Lehrtätigkeit und die Wundertaten Christi. Aber: die Kreuzigung fehlt. Schon nach dem Abendmahl endet die Leidensgeschichte mit der Dornenkrönung.
Warum fehlt die Passion? Aus Versehen? Oder doch gewollt? Es muss gewollt sein, dachte sich Thies. Denn das Kunstwerk eines unbekannten Meisters, das wohl der Churer Bischof Wido in Auftrag gegeben hatte, ist vollständig. Der abgebrochenen Jesus-Geschichte folgt die Geschichte des heiligen Martin. Die Vorfahren, dann Jesus, dann Martin. Das ist folgerichtig. Denn die Menschen des Mittelalters sahen Martin als Nachfolger Christi auf Erden. Der römische Of.zier hatte den irdischen Verlockungen abgeschworen, um gemäß Jesu Geboten der Nächstenliebe zu leben.
Warum also wurde die Passion weggelassen? "Das ist ein wichtiger Fingerzeig für die Beantwortung der Frage nach dem Tod Christi“, weiß Jürgen Thies. Und die Holzdecke ist keine Ausnahme. Thies: "Die romanische Kunst hat das Leiden Christi überall ausgeblendet.“ Nicht nur im zweiten Band seines Werkes, in dem sich Thies mit der Holzdecke von Zillis befasst, kann dies gezeigt werden. Auch im ersten Band, in dem er die Externsteine, jene Kultstätte im Teutoburger Wald, und die Werke Bernwards von Hildesheim behandelt und so akribisch die Bildsprache und Symbolik romanischer Kunst analysiert, ist das so.
Doch warum? Bei der Erklärung greift Thies weit zurück. In die Gründerjahre der Kirche. Die Offenbarung des Johannes spielt eine gewichtige Rolle. Michael bezwingt Satan und fesselt ihn für tausend Jahre. "Die Menschen nahmen das wörtlich“, erklärt Thies. Und so erwarteten sie die Wiederkunft Satans. Man zählte auf Michaels Hilfe. Und auch auf die Hilfe eines starken Christus. Schließlich hatte auch der den Versuchungen des Teufels in der Wüste widerstanden. Auch das zeigt übrigens die Holzdecke. "Den Menschen war also Christus als Sieger wichtig“, berichtet Thies. Und als Sieger, als Überwinder des Todes, erscheint er deshalb auch am Kreuz – in der Romanik. Thies: "So wollten sie ihn sehen.“ Mit Mantel. Mit Krone. Mit segnend ausgebreiteten Armen und unverkreuzten Beinen. So wurde er in den Kirchen des frühen Mittelalters abgebildet, in den romanischen Kirchen, die Häuser Gottes waren, in denen die Gemeinde noch ohne Predigt heiligen Handlungen beiwohnte.
Der Wandel kam mit der Gotik. Gewaltige Kirchen, hoch aufragende Kathedralen entstanden. Sie strebten dem Himmel entgegen und unterstrichen schon allein durch ihre Bauart die Entfernung des Göttlichen vom Menschen. Jetzt schwang sich der Priester zum Mittler zwischen Gott und Mensch auf. "Ohne ihn ging nichts mehr“, macht Thies eine Facette des Wandels fest. Die Beichte wurde den Menschen aufgezwungen. Die Bußleistungen verstärkt. Jetzt musste auch der leidende Christus, der Schmerzensmann, bis zum Exzess gezeigt werden. Für die irdische Macht der Kirche war das wichtig. Das Opfer, die Buße verlangen. Gottes Willen verkünden. Allein ihn zu kennen.
Diesen Wandel festzustellen, das war für Jürgen Thies alles andere als eine ".xe Idee“. Es war eine andere Interpretation des Todes Christi, die in der romanischen Kunst in ganz Europa ihren Ausdruck fand. Für Thies war dieser neue, alte Blick auf den Tod des Menschensohnes die Antwort auf die Frage, die ihn so lange umtrieb. Christus als Liebender, der heilt, der tröstet. Der sich immer den Bedürftigen zuwendet. Und auch am Kreuz blieb er der Sanftmütige. Der, der die Spirale der Gewalt unterbrach.
Einem Aufstand Christi gegen sein Schicksal am Kreuz wäre ein Kampf gefolgt, mutmaßt Thies. Das wollte Jesus nicht. Auge um Auge, Zahn um Zahn: Diese alten Muster aus ebenjenem Alten Testament überwand Christus. Thies: "Das hat er durchbrochen.“ Und so wird Gott zum Vater, der dieses Handeln tolerierte – aber nicht forderte. Die Kunstwerke der Roma- nik, glaubt Thies, haben das stets innerlich erfasst. Die Augen zur Umkehr öffnen, weg vom falschen Weg zu gehen, das zeigten die Werke der mittelalterlichen Künstler vor dem Bruch der Gotik. Wie Martin, der umkehrte und diesem Umstand wohl seine gewichtige Rolle auf der Holzdecke von Zillis verdankt. "Diese Botschaft hat mich nicht mehr losgelassen“, bekräftigt Thies.
Für Thies ist das eine ganz pragmatische Botschaft, die der Kunsthistoriker freilegen kann. "Das ist ein Ansatz für ein Zusammenleben“, sagt Thies. Überall da, wo Kon.ikte die Szenerie beherrschen. Im Heiligen Land eben selbst. Hätte die Kirche sich weiter nach dieser Botschaft entwickelt, wäre den Menschen viel Leid erspart geblieben. Keine Inquisition, keine Kreuzzüge, kein Index verbotener Bücher. Thies hat die Zweifel seiner Studenten verstanden. Die Kirche hätte niemals Gedanken verbieten dürfen – nur weil sie ihrem eigenen Machtstreben widersprachen. Für ihn als Dozenten habe das geheißen: Jungen Menschen darf keine Botschaft übergestülpt werden. Verschiedene Denkansätze, philosophische, künstlerische, müssen ihnen demonstriert werden. Ihnen muss gezeigt werden, dass kluge Menschen und Künstler auch schon ihre Zweifel hegten.
So wie der Meister und sein Geselle, die die Holzdecke in Zillis schufen. Mit seinen malerischen volkstümlichen Elementen, die der Buchmalerei entlehnt zu sein scheinen. Für Thies hat die Holzdecke etwas von einem buddhistischen Mandala. Auch das hat Eingangspforten, wie die Holzdecke von Zillis. Und Ornamente umfassen Bild- tafeln kreuzförmig. Dass auch Jonas Eingang fand auf die Holzdecke, ist freilich kein Zufall. Drei Tage lang war er im Bauch des Wals. Wie Christus bei den Toten. Dann wurde er ausgespuckt, ging Gottes Gebot gemäß ins sündhafte Ninive und brachte den König dazu, in Sack und Asche zu gehen. Wer umkehrt, wird verschont. Thies: "In der Romanik werden durch das Andeuten solcher Zitate ganze Geschichten erzählt.“ Da passt es auch, dass Bischof Wido, der Auftraggeber, als Friedensstifter im Streit zwischen Krone und Papst um die weltliche Macht gilt.
Für Thies, der einst den Chefsessel einer Bank aufgab, um für die Kunsttherapie zu leben, liegt es klar auf der Hand: Diese Glaubensansätze der Romanik sind eine Botschaft aus der Vergangenheit, die den Menschen heute als ganz konkrete Lebenshilfe dienen kann.
Nicht zuletzt die Hingezogenheit heutiger Generationen zu Mystery-Geschichten zeigt, wie groß die Sehnsucht nach Spiritualität ist. Thies: "Viele suchen eine Verbindung zu einer höheren Macht.“ Es gebe ganze Therapiezentren, die den Menschen helfen wollen, Seelenfrieden zu erlangen. Die Menschen suchen Glück und inneren Frieden – aber was ist das? "Das Einssein mit seinen Wünschen und Hoffnungen“, sagt Thies.